Schlaflos wandern durch die Nacht

Foto: Dörte Schmidt
Foto: Dörte Schmidt

 

40 Kilometer wandern? Verteilt auf zwei Tage, sicherlich kein Problem. Aber innerhalb von 12 Stunden? Wie fühlt es sich an, schlaflos durch die Nacht zu gehen? Wie schwer werden Beine und Augenlider? Was sieht, hört und riecht man zwischen Einbruch der Dunkelheit und dem Sonnenaufgang? Quasi vor der eigenen Haustür an der Hohwachter Bucht habe ich das bei Columbia Hike & Run 2017 ausprobiert. Eine persönliche Herausforderung – schön, erkenntnisreich, anstrengend und ein Erlebnis für jeden, der wie ich gern draußen unterwegs ist. 

Foto: Dörte Schmidt
Foto: Dörte Schmidt

Bunt gemischtes Starterfeld

Ich bin die Nummer 47. Das steht auf meiner persönlichen Wanderfibel, mit der mich das Veranstalter-Team auf die Strecke schickt und im Hintergrund über mein Fortkommen wacht. Noch ist es relativ hell und ich schaue mir die Weggefährten genauer an: Altersmäßig ist alles dabei, sogar zwei Kinder. Ich hätte meinen Eltern damals den Vogel gezeigt, so viel steht fest. Einige Mitwanderer wirken verdammt sportlich, andere sehen aus, als verbrächten sie die Abende eigentlich ganz gern auf dem Sofa. Auch ein paar Hunde scharren neben ihren Besitzern mit den Pfoten. Um 22 Uhr fällt der Startschuss. Der bunt gemischte Haufen geht in die Nacht. 

Sonst gehen Ulli und ich (r.) nicht im Partnerlook. Die Jacken haben wir vor Ort geliehen ;-) Foto: Columbia Hike & Run
Sonst gehen Ulli und ich (r.) nicht im Partnerlook. Die Jacken haben wir vor Ort geliehen ;-) Foto: Columbia Hike & Run

Jeder wie er mag und kann

Schon nach kurzer Zeit fällt die Gruppe auseinander – im Dämmerlicht werden Fotos geschossen, Motive gibt es bei diesem wunderschönen Abendhimmel reichlich. Auch ich bleibe immer wieder stehen, schaue zurück und freue mich über das besondere Licht dieses wohl ersten richtigen Sommerabends 2017 in Norddeutschland. Was für ein Glück.

 

Das persönliche Wandertempo sorgt dafür, dass aus der scheinbaren Massenwanderung schnell eine ganz individuelle Reise wird. Zwei Vierbeiner haben es besonders eilig. Ihre Besitzerin muss sich sputen. Ich gehe die ganze Strecke mit meiner Schwägerin und Freundin Ulli. Bereits auf den ersten Metern schließt sich Matthias an. Kilometer für Kilometer lassen wir als Dreiergespann hinter uns – dank App wissen wir, es sind pro Stunde im Schnitt etwas mehr als fünf. 

Sehlendorfer Binnensee im Herbst. Foto: Dörte Schmidt
Sehlendorfer Binnensee im Herbst. Foto: Dörte Schmidt

Sehlendorfer Binnensee

An der Hohwachter Bucht ist die schleswig-holsteinische Ostseeküste in weiten Teilen unbebaut. Zu verdanken ist das der Tatsache, dass große Teile unter Naturschutz stehen. Dazu gehört der Sehlendorfer Binnensee, den wir auf unserer Wanderung nach wenigen Kilometern erreichen. Durch seine offene Verbindung zur Ostsee verändert der Strandsee seinen Salzgehalt permanent und bietet einen wertvollen Lebensraum für Tiere und Pflanzen. Insbesondere im Spätsommer und Herbst sammeln sich dort zahlreiche Zugvögel auf ihrer Reise in wärmere Gefilde. Als wir das Gebiet in dieser Nacht durchqueren, ist alles ruhig. Nur unsere Stimmen und ein paar Frösche durchbrechen die Stille mit ihrem Quaken.

Foto: Dörte Schmidt
Foto: Dörte Schmidt

Auf der höchsten Steilküste Schleswig-Holsteins

Unser Weg führt weiter an den Sehlendorfer Strand. Für mich persönlich einer der schönsten Ostseestrände überhaupt – breit, feinsandig, weit und in der Zwischen- und Nebensaison fast menschenleer. In dieser Nacht brennen vereinzelnd Lagerfeuer. Eigentlich verboten, aber die Stimmung ist wirklich schön und macht Lust auf Sommer. Einfach dazusetzen und ein Bierchen schnorren, schießt es mir kurz durch den Kopf. Doch in unseren Siebenmeilenstiefeln zieht es uns die Steilküste von Wangels hinauf. Es ist die höchste in Schleswig-Holstein.

 

Wir schalten unsere Stirnlampen ein, mit deren Hilfe sich die fluoreszierenden Streckenschilder ebenso gut erkennen lassen wie kleinste Bodenunebenheiten. Es riecht nach Raps, bald wird er verblüht sein. Schon oft bin ich den Weg entlang der Felder oberhalb der Ostsee gegangen, bislang allerdings nur bei Tageslicht. Jetzt bleiben wir immer wieder stehen und staunen über das leuchtende Orange am Horizont. Mittlerweile ist es etwa 23 Uhr, der schmale Lichtstreifen bleibt die ganze Nacht. 

Schöner Empfang an der Verpflegungsstation. Foto: Dörte Schmidt
Schöner Empfang an der Verpflegungsstation. Foto: Dörte Schmidt

Verpflegung und Zuspruch

Am Eitzer Strand gehen wir ins Binnenland. Mit der Ostsee im Rücken führt uns ein verschlungener Pfad ein Stück die insgesamt 16 Kilometer lange Kükelühner Mühlenau entlang. Hier leisten unsere Stirnlampen gute Dienste. Von der Umgebung sehen wir dennoch wenig, nur hören können wir den Bachlauf hier und dort. Oder sind es die Bäume, die im aufkommenden Wind rauschen? Schon während wir durch das erste dunkle Waldstück laufen, nehme ich mir vor, diese Teilstrecke irgendwann bei Tageslicht zu durchwandern.

 

Nachdem rund 12 Kilometer hinter uns liegen, fangen wir an, der einzigen Verpflegungsstation unserer Mondscheintour entgegenzufiebern. Eine kleine Abwechslung wäre jetzt gut. Aber wartet da mitten in der Nacht wirklich irgendeiner auf uns? Zweifel kommen auf. Sind wir an einer Stelle falsch abgebogen? Dann plötzlich säumen kleine Lichter links und rechts unseren Weg – die „Landebahn“ ins Etappenglück, das uns einen ersten Stempel in unseren Wanderfibeln einbringt. Noch wertvoller sind der Zuspruch von gut gelaunten Helfern, die Getränke, belegten Brötchen, Energieriegel & Co. sowie die Begegnung mit ein paar Mitwanderern.

 

Unter dem Motto „der Weg ist das Ziel“ begeben wir uns mit neuem Schwung auf den zweiten Teil unserer Runde. Doch schon nach kurzer Zeit wird unsere Dreierkombo immer stiller. Empfiehlt unsere innere Uhr nachts um eins, einfach mal die Klappe zu halten? Oder ist es das Laufen auf dem Asphalt, das nicht nur die Beine schwerer, sondern auch den Geist ruhiger werden lässt? Hin und wieder leuchten Katzenaugen am Wegesrand. Hier und da knackt es im Gebüsch. 

Wäre das nachts um halb zwei nicht die deutlich bessere Alternative? Foto: Dörte Schmidt
Wäre das nachts um halb zwei nicht die deutlich bessere Alternative? Foto: Dörte Schmidt

Innerer Schweinehund, du kannst mich mal

Obwohl wir uns der Basisstation in Hohwacht mit großen Schritten nähern, bricht für mich etwa bei Kilometer 17 ein schweres Wegstück an. Wir gehen auf dem Fahrradweg die Bundesstraße 202 entlang und überlegen, wie es für die Autofahrer wohl aussehen mag, wenn ihnen in regelmäßigen Abständen ein paar Wanderer mit Stirnleuchten entgegenkommen. „Verstrahlt“ fällt mir dazu ein. Es ist stockfinster und ich finde dieses Teilstück an der Bundesstraße ziemlich fies. Wir sind zwar auf dem ausgeschilderten Weg, entfernen uns richtungsmäßig aber von unserem eigentlichen Zielpunkt. Erschwerend kommt hinzu, dass mein Ostsee-Holthuus in Döhnsdorf nur einen Steinwurf entfernt liegt. Die Ferienwohnung ist an diesem Wochenende vermietet, doch im Obergeschoss würde durchaus ein gemütliches Bett auf mich warten.

 

Zwar ist das Fleisch zu diesem Zeitpunkt schwach, doch die Oberhand gewinnt mein innerer Schweinhund dennoch nicht. Ich habe ein Ziel, biege mit den anderen links ab, gehe zurück zum Sehlendorfer Strand und am Binnensee entlang nach Hohwacht. Auf dem Weg treffen wir ein paar Frösche, die sich über den ungewöhnlichen Wanderer-Verkehr zu wundern scheinen. In der Hoffnung auf unsere Achtsamkeit bleiben sie wie versteinert sitzen – und haben Glück. Nach 23,3 Kilometern und 157 Höhenmetern erreichen wir kurz nach drei das Hotel Hohe Wacht. Ein zweiter Stempel in unseren Wanderfibeln ist der Lohn. Es gibt aufmunternde Worte, endlich Stühle und sogar eine warme Suppe. Lecker! 

Hafen Lippe und der Sonnenaufgang am Naturstrand von Behrensdorf. Fotos: Dörte Schmidt

Sonnenaufgang und Fischerfrühstück

Um kurz vor vier gehen wir los auf die letzte Runde. Insgesamt 19,2 Kilometer ist sie lang. Es wird langsam hell, die ersten Vögel zwitschern. Da ich zur Gattung der Eulen gehöre, habe ich das zuvor eigentlich nur nach durchtanzten Nächten erlebt. Diesem Alter bin ich mittlerweile entwachsen. Gleichzeitig ist die Phase, in der man nachts ständig aufstehen muss, noch in weiter Ferne. Davon gehe ich jedenfalls aus. Insofern sehe ich Sonnenaufgänge zurzeit selten bis nie. Dass sie durchaus ihren Reiz haben, stelle ich bei dieser Gelegenheit fest. Eine Lerche dürfte in diesem Leben dennoch nicht mehr aus mir werden.

 

Wir marschieren in Richtung Leuchtturm Behrensdorf. Aus meiner persönlichen Perspektive: Ich krieche, ja schleppe mich mit schweren Beinen und schmerzenden Hüften dem Sonnenaufgang entgegen. Als der orangefarbene Ball plötzlich auftaucht, sind wir oben auf dem Holzbohlenweg, der den Kleinen Binnensee vom Naturstrand und der Ostsee trennt. Schön. Mir tut trotzdem alles weh. Soll ich einfach hier warten? Worauf? Vielleicht könnte mich ein Angler in seinem Boot mitnehmen? Die sind doch früh unterwegs. In Sicht ist leider keiner... Am Leuchtturm hängt außerdem der nächste Köder – ein typisches Fischerfrühstück. Allein für den heißen Kaffee und den köstlichen Feuerlachs haben sich die Strapazen mehr als gelohnt!    

Ganz nah und doch so fern - der Leuchtturm Behrensdorf. Foto: Dörte Schmidt
Ganz nah und doch so fern - der Leuchtturm Behrensdorf. Foto: Dörte Schmidt

Meine Beine treten in Streik

An der Verpflegungsstation werden wir wie überall herzlich umsorgt. Der über 100 Jahre  alte Leuchtturm ist extra für uns geöffnet. Doch Ausblick hin oder her – ich schenke mir den Aufstieg. Keinen einzigen Schritt werde ich mehr gehen. Nicht nach oben auf den Turm, nicht die kurze Strecke zurück an der Ostsee entlang (ca. 7 km) und noch weniger die lange Tour durch das Adlerschutzgebiet um den Großen Binnensee herum (ca.12 km). Ein paar wenige Meter bis zum Auto der Tourismus-Chefin von Hohwacht, die sind gerade noch drin. Auch Matthias bricht die Tour am Leuchtturm in Behrensdorf ab. Dankbar nutzen wir den Shuttle-Service zur Basisstation. Ulli erklimmt wacker den Leuchtturm, trinkt in lichter Höhe ein Glas Sekt mit der Standesbeamtin. Ein Motivationsschub. Sie geht zu Fuß wieder nach Hohwacht und macht ihre 40 Kilometer damit fast voll. Meine Bewunderung hat sie.  

Fotos: Columbia Hike & Run

K.o., aber happy. Foto: Columbia Hike & Run
K.o., aber happy. Foto: Columbia Hike & Run

Zwischen Frust und Stolz

Ich bin von Natur aus ein sportlicher Typ, viel zu Fuß, mit Fahrrad oder Pferd unterwegs. Dennoch muss ich feststellen: Da gibt es Muskeln, die mir bislang vollkommen unbekannt waren. Im ersten Moment finde ich die Rückfahrt von Behrensdorf nach Hohwacht etwas frustrierend, das gebe ich offen zu. Aufgeben ist nicht so meine Sache. Mit der Medaille, die uns am Hotel feierlich um den Hals gehängt wird, bin ich dann aber doch ein bisschen stolz. Rund 30 Kilometer sind ohne Training schon ziemlich gut. Nicht zuletzt deshalb, weil ich als PR-Texterin und Autorin beruflich ein Schreibtischleben führe.

 

Wahrscheinlich gehe ich im nächsten Jahr wieder mit, wenn Columbia Hike & Run an der Hohwachter Bucht in die nächste Runde geht. Doch egal, wie viel Strecke ich dann (hoffentlich besser trainiert) schaffe. Der Effekt wird dem meiner diesjährigen Premiere gleichen: Ich verschlafe den kompletten Sonntag – erschöpft, aber glücklich. 

Das Basecamp am Hotel Hohe Wacht. Foto: Dörte Schmidt
Das Basecamp am Hotel Hohe Wacht. Foto: Dörte Schmidt

Absolut empfehlenswert

Mein Fazit: Allen Wander- und Laufinteressierten kann ich die Veranstaltung vorbehaltlos empfehlen. Neben der nächtlichen 12-Stunden-Wanderung, an der ich mich selbst versucht habe, gab es wie schon im letzten Jahr eine rund 80 Kilometer lange 24-Stunden-Tour sowie erstmals eine Trail-Running-Challenge in zwei Distanzen von 20 bzw. 30 Kilometern. Für die wunderschöne Landschaft mache ich hier keine weitere Werbung, die spricht für sich. Wirklich angenehm und locker war die Event-Atmosphäre. An dieser Stelle soll der Dank an das Orga-Team deshalb nicht fehlen. Übrigens: Wer keine komplette Ausrüstung besitzt, kann sich die wesentlichen Dinge vor Ort leihen – vom passenden Schuhwerk über Jacken, Wanderstöcke, regenfeste Rucksäcke und Stirnlampen bis hin zu Schlafsack und Isomatte für ein kurzes Nickerchen in der Basisstation. Ein Highlight für mich: der Massage-Service. Den heiligen Händen des Masseurs sei Dank, waren meine Beine schon am nächsten Tag wieder halbwegs intakt. Sogar der prophezeite Muskelkater blieb aus. Vielleicht bin ich doch einigermaßen fit? Allein der Glaube versetzt Berge ;-) 

 

Weitere Infos: www.columbia-hike-and-run.de

 

Fotos: Columbia Hike & Run; links unten: Dörte Schmidt